Als ich am vergangenen Wochenende mein wöchentliches Markt-Update verfasste, saß ich vor meinem Aktiendepot und dachte darüber nach, ob ich wegen des EU-Referendums in Großbritannien irgend etwas unternehmen müsste. Hier ist, was ich am Sonntag, 19. Juni, schrieb:
"Abstrahieren wir einmal von der Propaganda der Brexit-Gegner und –Befürworter. Nüchtern betrachtet stellt sich die Frage für mich so: Was würde ein wie auch immer geartetes britisches Votum für mein Aktiendepot bedeuten? Ob die Briten innerhalb oder außerhalb der EU weiterleben – sie werden deswegen weder einen Jaguar mehr oder weniger bauen, eine Flasche Whisky mehr oder weniger brennen. Coca-Cola wird nicht eine Flasche Coke und Procter & Gamble nicht eine Pampers-Windel weniger verkaufen. Es gab Großbritannien schon vor der EU und schon damals waren die Briten eine Wirtschaftsmacht. Und sie werden es wohl auch bleiben, egal, wie das Votum ausgeht.
Es gibt aus meiner Sicht zwei Gruppen, die Angst vor einem Brexit haben müssen: Polit-Bürokraten und Finanz-Jongleure. Sollten die Briten aus der EU austreten und trotzdem nicht am Bettelstab enden, wäre der Beweis erbracht: Wirtschaft funktioniert auch ohne Brüssel! Und das wäre für 50.000 Beamte in den EU-Apparaten lebensbedrohlich, denn plötzlich könnten noch andere Länder auf die Idee kommen, sich dem Zugriff des europäischen Bürokratiemonsters zu entziehen oder so etwas wie Demokratie zu praktizieren. Es ist der Präzedenzfall, der Paradigmenwechsel, den alle Polit-Beamten fürchten. Denn während Wirtschaft ohne Brüssel funktioniert, gilt der umgekehrte Satz nicht: Brüssel funktioniert nicht ohne Wirtschaft.
Die zweite Gruppe, die Finanz-Jongleure, treffen allerhand Vorkehrungen. Es werden Berge von Liquidität angehäuft. Die Margin-Sätze bei allen Brokern weltweit werden drastisch heraufgesetzt. Wer in Sachwerte investiert (Aktien!!!) und diese voll bezahlt hat, hat wenig zu fürchten – siehe oben. Heftiges Kursgezappel macht einem Investor wenig aus. Wer allerdings mit Hebel 400 auf Kursbewegungen spekuliert oder hoch verschuldet ist (wie sämtliche europäische Regierungen – eben auch die Polit-Bürokraten aus Gruppe eins), der dürfte im Augenblick sehr nervös werden. Erinnerungen an den Januar 2015 dürften wach werden, als die Schweizer Nationalbank die Bindung des Franken an den Euro aufgab. Das Kartenhaus aus gegenseitiger Verschuldung, aufgeblasenen Zentralbank-Bilanzen, unvorstellbaren Geldmengen, die nicht durch reelle Waren oder Dienstleistungen untermauert sind, könnte einfach in sich zusammenfallen.
Ich bin kein „Wirtschaftsweiser“. Aber ich habe für mich entschieden, dem ganzen Treiben gelassen zuzuschauen. Erinnern wir uns an den Trubel zum Jahrtausendwechsel: Der Y2K-Hype prophezeite den weltweiten Zusammenbruch der Computersysteme, bedrohliche Szenarien wurden durchgespielt und passiert ist – nichts. Die Analogie hinkt, aber ich vermute, dass auch am 24. Juni die Sonne aufgehen wird, mein Bäcker weiter Brötchen backt und der Strom immer noch aus der Steckdose kommt. Das Orakeln überlasse ich gern denen, die damit ihr Geld verdienen."
Die Sonne ist tatsächlich aufgegangen und der Tag wird ein heißer - es sind 36°C angekündigt. Auch mancher Politiker dürfte heute Hitzewallungen bekommen. Wahrscheinlich geht der große Katzenjammer jetzt erst los. Schon höre ich die ersten Politiker schwadronieren, dass zwar Europa nicht tot sei, aber für Großbritannien sei der 23. Juni ein schwarzer Tag. Die Aktienmärkte in Asien stürzten schon mal kräftig ab.
Der S&P-Future, der nahezu rund um die Uhr gehandelt wird, ging gestern bei über 2.100 Punkten aus dem Rennen und stand heute am frühen Morgen bei 1.999. Der Dax eröffnete mal eben eintausend Punkte unter dem gestrigen Close. Der Dax-Future stand im Tief bei 9.152,5 Punkten. Der EuroStoxx-Future fiel in der Spitze sogar um über elf Prozent. Der Euro, gestern noch im Bereich von 1,14 US-Dollar unterwegs, fiel zwischenzeitlich auf 1,0913 Dollar - ein Rutsch um fünf Cent in zwölf Stunden.
Immer noch steht für mich die fundamentale Frage: Was passiert jetzt mit Europa? Ganz pragmatisch betrachtet, werden deutsche und britische Unternehmen jetzt in ihren Wirtschaftsbeziehungen etwas mehr bürokratischen Aufwand betreiben müssen. Die britische Finanzindustrie wird demnächst für die EU zum "Ausland", daher werden wohl britische Broker und Banken, die auf dem Kontinent tätig werden wollen, die eine oder andere Niederlassung eröffnen müssen. Aber um die Finanzindustrie muss uns nicht bange sein - die hat sich bisher immer ganz gut um sich selbst gekümmert. Auch die Unternehmen werden den Brexit schultern. Unternehmer sind es gewohnt, Widrigkeiten zu überwinden.
Für den EU-Haushalt bricht mit Großbritannien der drittgrößte Beitragszahler weg. Deutschland als größter Netto-Einzahler überwies 2014 etwa 15,5 Mrd. Euro in den Brüsseler Haushalt. Mehr als das Doppelte des zweiten Nettoeinzahlers, Frankreich. Die Franzosen zahlten 7,17 Mrd. Euro ein. Die Briten überwiesen 2014 etwa 4,93 Mrd. Euro an Brüssel (lt. Handelsblatt vom 23. Juni 2016). Dieses Loch muss jetzt gestopft werden und wir dürfen raten, von wem sich unsere Parteifunktionäre das Geld holen werden. Ich vermute, dass der deutsche Steuerzahler wieder das eine oder andere Milliönchen mehr abdrücken darf, um die Brüsseler Bürokratie am Laufen zu halten. Der Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas wird also zur finanziellen Belastung für die Deutschen.
Und mein Aktiendepot? Die Unternehmen, die ich gestern besaß, werden auch heute wieder Geschäfte machen. Schulbusse, von denen ein Teil mir gehört, machen sich auf den Weg. Auf Friedhöfen, von denen ein Teil mir gehört, werden Beerdigungen stattfinden. Schiffe fahren über die Weltmeere - ein Teil davon gehört mir. Intel wird weiter Chips verkaufen, Microsoft Software und Computer, Apple Telefone und Chevron Öl. Von den Gewinnen fließt ein Teil als Dividende in meine Taschen.
Durch den Kursanstieg des Dollars gegenüber dem Euro sind meine Aktien heute sogar mehr Euros wert als gestern, selbst wenn sie im Kurs etwas fallen sollten. Das ist der Vorteil, wenn man in die größte Wirtschaftsmacht der Welt investiert. In einer Währung, die rund 230 Jahre älter ist als der Euro.
Ja, die weltweiten Aktienmärkte müssen den Schock der britischen Basis-Demokratie erst einmal verkraften. Es kann und wird sicher noch die eine oder andere Turbulenz geben. Aber wo andere Bedrohungen sehen, suche ich nach Chancen. Denn erstklassige Unternehmen zum Schnäppchenpreis gibt es nicht alle Tage.
Der Sommer wird heiß - in jedem Sinne.
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Patrick (Freitag, 24 Juni 2016 14:29)
Herr Gajowiy,
Obwohl ich länger nicht mehr auf ihrem Blog war, hat mich die Überschrift im Newsletter neugierig gemacht; und der Artikel spricht mir aus der Seele. Gerade komme ich von meinem Mittagsstammtisch, wo auch Familienunternehmer dran teilhaben, die Stimmung ging von "jetzt kommen hohe Steuern" bis "mir doch egal" und "gut, dass die endlich raus sind". Meine Äusserung war in ihrer Richtung unterwegs; nach ein paar holprigeren Jahren wird's für uns besser sein und die Briten werden sich nicht von heute auf morgen nur von Luft ernähren, ihr Leben geht auch weiter (siehe Windeln, Sonnenaufgang und co.).
Alfred (Freitag, 24 Juni 2016 18:28)
Hallo Herr Gajowiy,
ich kann mich Ihnen und meinem Vorredner Patrik vollumfänglich anschließen. Ich habe mich schon immer gefragt, warum es für einen Nettozahler wie die Briten wirtschaftlich schwierig werden sollte, wenn sie aus dem Moloch EU austreten. Für Nettoempfänger, deren Wirtschaft durch die EU-Subventionen gestützt wird, sähe es natürlich schon anders aus.
Außerdem wäre es ohnehin interessant, wie sich die europäische Wirtschaft entwickeln würde, wenn die Gelder, die in die (vollkommen unnütze) europäische Administration gesteckt werden, der Wirtschaft in irgend einer geeigneten Weise zufließen würden. Dann wären die Gelder bei den Leistungserbringern (Wirtschaft) und nicht bei den überbezahlten Beamten, die nur dazu da sind, sich mit sinnlosem Aktionismus (wenn überhaupt) eine Existenzberechtigung zu schaffen. Nur um es mal beispielhaft anzubringen: Wenn sich ein "normaler" EU-Beamter nach seiner Pensionierung einen Reisebus für 300.000 Euro leisten kann, frage ich mich, was dieser Mensch in seinem Beamtenleben geleistet haben muß, um durch seine Bezüge (nicht seinem Verdienst) sich ein solches "Spielzeug" leisten zu können. Wie lange muß wohl ein Mensch in der freien Wirtschaft arbeiten, um solche freie Mittel ansparen zu können?
Meines Erachtens haben die Briten schon bei der Ablehnung des Euro richtig gelegen (hat auch nicht geschadet) und werden wohl mit ihrer heutigen Entscheidung auch nicht falsch liegen. Es ist eben nicht so einfach möglich, eine über Jahrhunderte gewachsene Vielzahl von Völkern mit unterschiedlichen Mentalitäten zu einer homogenen Masse zu verkneten. Und dies alles durch eine Schar von Beamten und Politikern, die viel zu weit von den Zentren des eigentlichen Geschehens weg sind. Ohnehin dürfte dem gemeinen Volk die eigentliche Intension der EU nicht bekannt sein, da viele Entscheidungen in Hinterzimmern und höchst exklusiven Zirkeln getroffen werden, zu denen nicht einmal die nationalen Parlamentarier zutritt haben. Höchst seltsam.
Mit der EU lösen wir Probleme, die es ohne EU nicht geben würde.
Viele Grüße,
Alfred